Ettore Bugatti über Bentley: „Le Camion plus Vite du Monde“ (Der schnellste Lastwagen der Welt)
W. O. Bentley über Le Mans – vor dem Rennen 1923: „I think the whole thing´s crazy – nobody´ll finish. Cars aren´t designed to stand that sort of strain for twenty-four hours.“
W. O. Bentley über Le Mans – während des Rennens 1923: „After a few hours in the pit I decided that this wasn´t at all stupid; that it was, in fact, very exciting… Le Mans was beginning to get into my blood. By midnight…my first sight of racing in the dark – I was quite certain that this was the best race I had ever seen.“ (Quelle: W. O. Bentley, W. O. The Autobiography of W. O. Bentley, Hutchinson of London, 1958, S. 116f.)
Für britische Motorsport-Enthusiasten mit dem im Vereinigten Königreich typischen Sinn für Historie stehen vier Veranstaltungen des Automobilsports ganz oben auf dem jährlichen Speisezettel: Der „British Grand Prix“, ältester Formel-1-Weltmeisterschaftslauf, das „Goodwood Festival of Speed“ und das „Goodwood Revival Meeting“, letzteres die weltweit schönste Huldigung des historischen Motorsports auf einer Rundstrecke, sowie die 24 Stunden von Le Mans, zu denen jährlich fast 100 Tausend britische Sportwagen-Fans pilgern.
Fragt man nach dem Ursprung dieser immensen Bedeutung des französischen Langstrecken-Klassikers für die Petrolheads von der Insel, fallen zwangsläufig zwei Namen: Bentley und Jaguar. Beide Nobelmarken prägten mit ihren Erfolgen die 1920er und 1950er Jahre in Le Mans, später kamen noch weitere Siege hinzu (Jaguar 1988 und 1990, Bentley 2003). Ohne ihre Le Mans-Historie würden Bentley und Jaguar heute vermutlich nicht mehr existieren, sie wären wie andere britische Traditionsmarken (Rover, Daimler, Alvis, Bristol, Lagonda, Jensen,…) schon längst Geschichte.
Lassen wir die Rückkehr Bentleys nach Le Mans in der Neuzeit (2001-2003) einmal außer Acht, kann man die Geschichte bei den 24 Stunden in drei Teilen darstellen: Prolog, Glanzzeit und Epilog.
Prolog: 1923-1926, viermal in Le Mans, ein Gesamtsieg (1924)
Glanzzeit: 1927-1930, viermal in Le Mans, vier Siege
Epilog: Drei Starts des Bentley „Embiricos“ in Le Mans 1949-1951.
Die vier Jahre der Glanzzeit waren geprägt von den „Bentley Boys“: Ohne die wunderbaren Sportwagen von W. O. Bentley, produziert in Cricklewood, einem Stadtteil von London, hätte es die Bentley Boys nicht gegeben, aber – umgekehrt – ohne diese schillernden Persönlichkeiten, überwiegend Amateure alter Schule, Sportsleute, zum Teil immens vermögende „Playboys“, und ohne die Geschichten hinter ihren Einsätzen im Bentley Team, würde ein Teil der faszinierenden Le Mans-Historie der Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg fehlen, würde das Rennen heute nicht den Glanz verbreiten, speziell für die Fans von den Britischen Inseln. Ein paar Geschichten und die dazu passenden Bentley-Fahrzeuge im Maßstab 1:43 sollen hier aufgegriffen werden.
Zunächst ein paar Fakten zu den Bentley Sportwagen und den „Bentley Boys“: Die folgende Tabelle zeigt die Einsätze der Bentleys in Le Mans in den Jahren 1923 bis 1951 und benennt die Modellhersteller, die bislang (2015) Bentley Le Mans-Modelle in 1:43 angeboten haben – dazu später mehr.
Geschichte der Bentley Sportwagen in Le Mans 1923-1930 in Stichworten
1919, nach dem 1. Weltkrieg: Gründung von Bentley Motors durch Walter Owen Bentley. Der Prototyp eines 3 Liter-4 Zylinder-Bentley, konstruiert von Bentley und F. T. Burgess, wird bei der Londoner Olympia Motor Show 1919 vorgestellt, der Verkauf beginnt 1921. Der Bentley hat einen Hochleistungsmotor mit obenliegender Nockenwelle, vier Ventilen pro Zylinder und Doppelzündung, Anfangsleistung 70 PS. Erste Rennen folgen 1922 in Brooklands und bei der Tourist Trophy.
1923: Der Londoner Bentley-Händler John Duff meldet seinen 3 Litre zum ersten 24 Stunden von Le Mans 1923 an und bittet W. O. Bentley um Unterstützung. Der Bentley ist einziges britisches Fahrzeug unter französischen und zwei belgischen Mitbewerbern. Duff belegt zusammen mit Frank Clement Platz 4 nach zurückgelegter Distanz in der damals noch inoffiziellen Gesamtwertung (größte zurückgelegte Distanz). Im folgenden Jahr gewinnt ein 3 Litre wiederum mit Duff und Clement am Steuer diese inoffizielle Distanzwertung gegen die rein französische Konkurrenz.
Ab 1925 folgen dann regelmäßige Werkseinsätze des Bentley Teams in Le Mans, mit vier Gesamtsiegen in Folge 1927-1930. Die Motoren wachsen in diesen Jahren von 3 Litern über 4,4 Liter auf 6,6 Liter und von vier auf sechs Zylinder – Höhepunkt der Reihe ist der „Speed Six“, die Sportversion des 6½ Litre Bentley Tourenwagens. 1930 folgt auf Betreiben von „Bentley Boy“ Tim Birkin (und entgegen der Überzeugung von W. O.) parallel zum Speed Six ein privat gemeldeter Einsatz von zwei „Blower Bentley“ (4,4 Liter, 4 Zylinder) mit Kompressor-Aufladung, die 1929 entwickelt wurden, sie bleiben allerdings ohne Zielankunft. Der Speed Six „Old Number One“ gewinnt zweimal in Folge (1929 und 1930).
1931 zieht Chairman Woolf Barnato sein Geld aus dem Geschäft und Bentley wird von Rolls Royce übernommen, Renneinsätze der Bentley Sportwagen in Le Mans folgen 1931-1933 nur noch in privater Hand und ohne zählbare Erfolge.
Als Kernzeit der „Bentley Boys“ werden meist die Jahre 1927-1930 angesehen, als die Sportwagen aus Cricklewood, eingesetzt von W. O. Bentley, viermal den 24 Stunden-Klassiker gewinnen. Beschränkt man sich auf die Fahrer, die in diesen Jahren mindestens einmal Platz 1 erreicht haben, bilden die folgenden Piloten den harten Kern der „Bentley Boys“:
Frank Clement (1886-1970), Leiter der Versuchsabteilung von Bentley Motors, Test- und Rennfahrer, fährt 1923 bis 1930 in allen Le Mans-Rennen für Bentley. Inoffizieller Gesamtsieg 1924 mit John Duff (1885-1958, Leiter der Bentley Vertretung in London) mit einem Bentley 3 Litre (Anmerkung: Duff fuhr nur bis 1925 für das Bentley Team. Er gehört daher nicht mehr zum engeren Kreis der 1927-1930 aktiven Bentley Boys).
Dr. Dudley Benjafield (1887-1957), vermögender Bakteriologe, fährt 1925 bis 1930 als Amateur-Pilot für Bentley, Gesamtsieger in Le Mans 1927.
Sammy Davis (1887-1981), Motorsport-Journalist beim Magazin „Autocar“, ebenfalls Amateur-Pilot. Fährt 1926, 1927 und 1930 für Bentley. Gesamtsieger 1927. Sein Sohn Colin Davis fuhr in den 1960er Jahren u.a. für Porsche und gewann 1964 mit dem 904 GTS die Targa Florio.
Tim Birkin (1896-1933), Profi-Rennfahrer, schnellster aller Bentley Boys, vermögend (Textilbranche). Le Mans-Einsätze mit Bentley 1928-1930. 1929 Gesamtsieg mit dem „Speed Six“. Treibende Kraft hinter dem „Blower Bentley“, der allerdings in Endurance-Rennen erfolglos bleibt (Ausfall in Le Mans 1930). Erneuter Sieg in Le Mans 1931 mit einem Alfa Romeo 8C. Birkin verstirbt 1933 im Anschluss an ein Rennen in Tripolis, Folge einer Vergiftung nach einem Moskitostich.
Bernard Rubin (1896-1936), vermögender Sohn und Erbe eines Perlenhändlers. Einsatz in Le Mans 1928 und 1929, Gesamtsieg 1928. Verstirbt 1936 an Tuberkulose.
Glen Kidston (1899-1931), U-Boot-Offizier im 1. Weltkrieg, Rennfahrer ab Anfang der 1920er Jahre. Einsatz im Bentley in Le Mans 1929 und 1930, Gesamtsieg 1930. Danach Flugpilot, tödlicher Flugzeugabsturz 1931.
Woolf Barnato (1895-1948), wichtigster und erfolgreichster „Bentley Boy“, extrem vermögender Erbe (Diamanten- und Goldminen in Südafrika). Bester Endurance-Pilot unter den Bentley Boys: Drei Le Mans-Einsätze 1928-1930, drei Siege – eine Quote, die bis heute (2023) kein anderer Dreifach- oder Mehrfachsieger in Le Mans geschafft hat. Mitte der 1920er Jahre rettet er Bentley Motors mit seinem Vermögen, wird Eigner und Chairman von Bentley, W. O. Bentley wird sein Angestellter. Rückzug seines Vermögens 1931 führt zum Bentley-Konkurs und zur Übernahme durch Rolls Royce.
Story 1: Frank Clement und das Fahrrad
Le Mans 1923: Die erste Langstreckenprüfung in Le Mans sieht neben zwei belgischen Excelsior nur einen einsamen Bentley 3 Litre, gemeldet von John Duff, als Konkurrent der französischen Teilnehmer. Eigentlich geht es um eine Zuverlässigkeitswertung über drei Jahre (Le Mans 1923-1925), den „Rudge-Whitworth-Cup“, aber Publikum und Presse verfolgen natürlich auch, welches Fahrzeug am Ende die größte Distanz zurückgelegt hat.
In dieser inoffiziellen Wertung kämpft der Bentley von Duff und Clement über viele Stunden mit den beiden Chenard & Walcker und einem Bignan um Platz 1, bis am Sonntagvormittag der Treibstofftank durch einen Stein beschädigt wird. In der Folge läuft so lange Benzin aus, bis der am Steuer sitzende John Duff fünf Kilometer vor den Boxen stehenbleiben muss. Das Rennen scheint für den Bentley zu Ende zu sein. Duff läuft jedoch die 5 Kilometer zur Bentley-Box und erstattet Bericht. Kopilot Frank Clement schnappt sich das Fahrrad eines französischen Gendarms und fährt bewaffnet mit zwei Kanistern Benzin gegen die Fahrtrichtung zum gestrandeten Fahrzeug. Die Kanister Benzin reichen trotz des Lecks aus, den Wagen wieder an die Box zu bringen. Das Fahrrad liegt auf dem Rücksitz und wird dem Polizisten ordnungsgemäß wieder zurückerstattet. (Anmerkung: Je nach Quelle gibt es bei dieser Geschichte kleinere Unterschiede, hier wurde die am häufigsten dargestellte Variante gewählt.)
Nach der Reparatur durch Clement (mittels Korken und Seife oder Kaugummi – je nach Quelle) kann das Team das Rennen wieder aufnehmen und nach einer tollen Aufholjagd mit mehreren Rundenrekorden am Ende Platz 4 in der Distanzwertung erreichen. Im folgenden Jahr gewinnen Duff und Clement mit einem Bentley 3 Litre, der nunmehr – anders als im Vorjahr – über Bremsen auch an den Vorderrädern verfügt, ohne Probleme die inoffizielle Distanzwertung.
Modelle in 1:43: Der 3 Litre-Bentley, der 1924 das Rennen in Le Mans gewann, ist im Maßstab 1:43 als Diecast von IXO, als Resine-Fertigmodell von Starter und als Bausatz von MCM produziert worden. Das MCM-Modell ist sicher das Beste, heute allerdings nur noch sehr schwer aufzutreiben. Die Farbe des 1924er Bentley ist umstritten: Einige Quellen gehen von Schwarz oder von einem sehr dunklen Grün aus, andere folgen der üblichen Vorstellung von „British Racing Green“, das die meisten Bentleys der Epoche, auch die heute noch existierenden, auszeichnet – ein kräftiges Dunkelgrün. Ob man das 1924er Modell mit oder ohne Verdeck in die Vitrine stellt, ist Ansichtssache. 1924 startete man üblicherweise mit geöffnetem Verdeck, musste es aber nach der fünften Runde für mindestens zwei weitere Runden schließen. Daher existieren 1924 Fotos der Fahrzeuge mit geschlossenem Verdeck, mit geöffnetem Verdeck und aufgestellter Frontscheibe oder sogar gänzlich ohne Frontscheibe. 1923 gab es diese Verdeck-Regelung noch nicht, man startete da wetterbedingt (Hagel und Regen) mit aufgestellter Frontscheibe, später im Rennen wurden die Frontscheiben z.T. umgelegt oder sogar ganz entfernt.
Das 1923er Modell ist in 1:43 eigentlich nur von MCM als Bausatz produziert worden. Der Modellbauer kann aber ein 1924er Modell (z.B. von IXO) recht gut in die 1923er Version umwandeln, da es sich um denselben Typ handelte.
Story 2: Vom White House Crash zur Feier im Hotel Savoy
Le Mans 1927: Nach dem Ausstieg der französischen Elite, Chenard & Walcker, Lorraine-Dietrich und Peugeot, schrumpft das Teilnehmerfeld auf 22 Fahrzeuge, darunter das Bentley Team, das mit einem neuen Modell mit 4,4 Liter-Motor und zwei bewährten 3 Litre als Favorit für die immer noch inoffizielle Distanzwertung gilt. Vom Start weg gehen die Bentleys – anfangs noch mit dem gemäß Reglement geschlossenen Verdeck – in Führung.
Abends, kurz nach 21 Uhr, werden die Karten dann aber neu gemischt: Bei einem Massencrash in der unübersichtlichen „Maison Blanche“-Passage werden drei französische Fahrzeuge und auch zwei Bentleys irreparabel beschädigt. Der 3 Litre-Vorjahreswagen mit Sammy Davis am Steuer trifft auf eine komplett blockierte Strecke, sein Bentley kollidiert mit den gestrandeten Fahrzeugen und wird erheblich beschädigt. Er schleppt sich an die Box, der Wagen wird dort repariert, und Davis schafft nach einer Aufholjagd am Ende mit Kopilot Dr. Benjafield noch Platz 1 in der Distanzwertung.
Bei der Siegesfeier im ehrwürdigen Londoner „Savoy Hotel“ auf Einladung der Zeitschrift „The Autocar“ wird dann an nichts gespart. Nach dem Gourmet-Dinner zum Champagner die Krönung: Der Siegerwagen erreicht das Hotel mit allen Blessuren und so verschmutzt, wie er in Le Mans die Ziellinie überquert hat, wird dort demontiert, damit er über die Hoteltreppe in den Salon der 1. Etage gelangen kann, und nimmt so als Überraschungsgast an der Feier teil – Beginn einer Tradition, die Bentley im Anschluss an die folgenden drei Le Mans-Siege wiederholt.
Modelle in 1:43: Der siegreiche Bentley 4,4 Litre wurde von IXO, Starter (Fertigmodell) und MCM (Bausatz) produziert, das IXO-Modell ist auch noch erhältlich. Wiederum dürfte der MCM-Bausatz für den Modellbauer erste Wahl sein, sofern man noch einen erwischt. 1927 musste man am Start zunächst das Verdeck aufbauen, konnte erst dann losfahren und durfte später das Verdeck wieder abbauen. Wie schon 1924 sieht man auch hier auf den Originalfotos Bentleys mit geschlossenem und mit offenem Verdeck. Beim White House Crash hatten die Bentleys das Verdeck geöffnet (und vermutlich unter einer Plane verstaut), und die Frontscheibe war aufgestellt.
Story 3: Barnato und die „Le Train Bleu“-Wette
März 1930: Millionenerbe Woolf Barnato, Chairman und Miteigentümer von Bentley Motors, sucht nach seinen beiden Siegen in Le Mans 1928 und 1929 nach neuen Herausforderungen. In bester britischer Tradition geht es um eine Wette, bei der seine private „Speed Six“-Limousine und einer der berühmten Luxuszüge Europas, der „Blue Train“, die Hauptrolle spielen.
Der „Blue Train“, französisch „Le Train Bleu“, genauer „Calais-Méditerranée Express“, Luxuszug der französischen Staatsbahn mit dunkelblauen Schlafwagen, verkehrt von Calais an der Kanalküste via Paris bis zur Côte d´Azur (Cannes – Nizza – Monte Carlo – Menton) und entführt britischen Hoch- und Geldadel über Nacht aus dem feuchten englischen Winter in milde mediterrane Regionen: 1400 km ab Calais, Durchschnittsgeschwindigkeit einschließlich aller Halte in Bahnhöfen 65 km/h – in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts noch ohne Konkurrenz durch Flugzeuge oder die viel zu langsamen und gebrechlichen Automobile, die sich zudem über völlig unzureichende Landstraßen quälen müssen. Ab 1930 beginnen jedoch zunehmend zuverlässige und leistungsstarke Automobile am Monopol der Eisenbahn zu kratzen, Anfangs in Form typisch britischer Wetten – wer ist vom Mittelmeer aus schneller in Calais? Ein Rover und ein Alvis schaffen dies Anfang 1930 gegen den „Blue Train“.
Aber Barnato, erfahrener Le Mans-Endurance-Pilot und Besitzer mehrerer Bentley „Speed Six“ Tourenwagen, will mehr: Von Cannes über französische Landstraßen (keine Autobahnen!) über Nacht nach Boulogne an die Kanalküste, dann mit dem Schiff nach Folkestone und schließlich nach London in seinen „Conservative Club“, und das alles schneller als der Blue Train von Cannes nach Calais! Im berühmten Carlton Hotel in Cannes stellt er seiner Tischrunde diese Wette vor. Ob die Freunde sich darauf eingelassen haben, ist nach verschiedenen Quellen umstritten. Aber für Barnato ist es eine Frage der Ehre, den Versuch zu wagen – nicht etwa mit dem 1929er Le Mans-Siegerwagen, sondern mit seiner eigenen „normalen“, traditionellen Speed Six „Mulliner“ Limousine.
Am 13. März, 17.45 Uhr, startet der Blue Train in Cannes Richtung Calais, und gleichzeitig verlässt Barnato zusammen mit einem zweiten Fahrer (Dale Bourn) den Salon im Carlton, steigt in seinen Bentley und begibt sich auf die Reise durch die Nacht über französische Landstraßen, 1300 km bis zur Kanalküste. Am nächsten Tag um 15.25 Uhr erreicht der Schnellzug Calais, da sitzen die beiden Bentley-Piloten bereits seit 4 Minuten (!) in ihrem Conservative Club in London – trotz Problemen beim Nachtanken, starker Regenfälle und einem Reifenplatzer: Wette gewonnen, wenn auch denkbar knapp!
Barnato wäre nun ein schlechter Geschäftsmann, wenn er den Erfolg nicht mit einem neuen Bentley-Modell feiern würde: So entsteht zwei Monate nach dem in der britischen Presse gefeierten Ereignis ein „Blue Train Special“, wiederum auf Basis eines „Speed Six“ (Fahrgestell und Antriebseinheit), aber nun als elegantes „Sportsman Coupé“, gebaut vom Karosserier Gurney Nutting, immer noch „Heavy Metal“ mit 2,2 Tonnen Gewicht, aber mit der Technik des aktuellen und kommenden Le Mans-Siegers und mit einem schnittigen Coupé-Dach, vorn zwei Sitzen und dahinter einem dritten Sitz quer zur Fahrtrichtung – ein Le Mans-Sieger für die Straße, und eines der ersten Fahrzeuge in bester „Gran Turismo“-Tradition. Lange Zeit wird der Gurney Nutting Bentley für den Blue Train-Bezwinger gehalten, aber diese Ehre gebührt dem „normalen“ Mulliner Speed Six mit seiner unscheinbaren Karosserie im Stil der 1920er Jahre.
Modelle in 1:43: Heute kann man sowohl den „echten“ Blue Train Bezwinger als auch den „Blue Train Special“ als restaurierte klassische Fahrzeuge bewundern. Im Maßstab 1:43 ist der „Special“ lieferbar (von Minichamps und IXO). Ein Modell, das dem Barnato-Fahrzeug (mit Mulliner-Karosserie) entspricht, welches die Wettfahrt damals gewann, gab es früher als Kleinserien-Fertigmodell von Brooklin Models (aus der Brooklin-Serie Lansdowne), ein aktuelles Modell ist meines Wissens leider nicht lieferbar (Stand 2015).
Story 4: Mit dem Gebrauchtwagen nach Le Mans und danach in den Urlaub
Mit dem fünften Le Mans-Sieg 1930 verabschiedet sich Bentley Motors bis zur kriegsbedingten Zwangspause vom französischen Langstrecken-Klassiker. Die Modellpalette wird nun vom neuen Eigner Rolls Royce bestimmt. W. O. Bentley verlässt RR 1935 und geht zu Lagonda, wo er u.a. einen V12-Rennsportwagen für Le Mans 1939 und später den berühmten 2,6 Liter-Sechszylinder-Reihenmotor mit zwei obenliegenden Nockenwellen entwickelt, der in den 1950er Jahren die Basis für die Serien- und Rennsportwagen von Aston Martin bildet. Aber das ist eine andere Geschichte.
Bentleys Le Mans-Historie hat nach der Kriegsunterbrechung dann doch noch ein Nachspiel, und das beginnt schon im Jahr 1936: In dieser Zeit werden Bentleys zusammen mit Rolls Royce im englischen Derby produziert. Der Bentley 4¼ Litre erscheint 1936 mit einem Sechszylindermotor und ca. 125 PS, er wird von renommierten Traditionsbetrieben (Vanden Plas, Mulliner, Park Ward) mit herkömmlichen Karosserien versehen, deren Luftwiderstand – so haben Windkanaltests ergeben – in Rückwärtsfahrt geringer ist als in Fahrtrichtung: Kein Problem auf den schmalen, kurvenreichen englischen Landstraßen, aber auf den neuen Schnellstraßen in Frankreich, Italien oder Deutschland ist man damit gegenüber der Konkurrenz (Alfa Romeo, Mercedes, Talbot-Lago usw.) chancenlos.
Etwas Neues muss her: So fordert der Bentley/Rolls Royce-Vertreter in Paris, Walter Sleator, eine neue, strömungsgünstigere Karosserie, einen „Low Drag“-Bentley. In Derby ist man zurückhaltend: Sleator soll einen Käufer für einen Prototypen finden, erst dann wird er gebaut. Ein reicher griechischer Reeder und Banker, André Embiricos, zeigt Interesse, und ein in der Szene noch wenig bekannter Designer, Georges Paulin – von Beruf Zahnchirurg – zeichnet eine wunderschöne Karosserie im „Teardrop“-Stil aktueller Talbots und Delages, eine „Low Drag“-Karosse für den 4¼ Litre Bentley. Der Prototyp wird in Rueuil nahe Paris vom Karosseriebauer Marcel Pourtout mit einer stahlgrauen Duralumin-Karosserie realisiert, und die Motorleistung wird in Derby auf gut 140 PS gesteigert. Im Sommer 1938 nimmt Embiricos das Einzelstück in Empfang und überlässt es z.T. professionellen Piloten wie George Eyston, die Spitzengeschwindigkeit auszuloten. Der Paulin-Bentley überzeugt auf deutschen Reichsautobahnen und auf Rennstrecken wie Montlhéry und Brooklands mit Vmax-Werten nahe der 200 km/h-Marke.
Bereits Ende 1939 verkauft Embiricos das Fahrzeug wieder, an den Briten Howard Soltan Fitzgerald Hay (H. S. F. Hay, 1915-1991), der ihn bis 1969, also über 30 Jahre, als Privatfahrzeug nutzt und ihn 1949, 1950 und 1951 – als Zwischenstation auf dem Weg der Hay´s in den Urlaub an der Côte d´Azur – in Le Mans an den Start bringt. Georges Paulin blieb es versagt, die lange Geschichte seiner Schöpfung weiter zu verfolgen, als Resistance-Aktivist wurde er im Krieg ein Opfer der Gestapo-Schergen.
Jedenfalls meldet Hay seinen „Paulin Bentley“ für das erste Nachkriegsrennen in Le Mans, da ist das Fahrzeug bereits elf Jahre alt und hat fast 100 Tsd. Kilometer auf der Uhr. Mrs. Mary Hay soll die kommode Stromlinien-Limousine als Kopilotin steuern, dann wird aber doch der rennerprobte Journalist Tommy Wisdom als zweiter Fahrer eingesetzt. Am Ende schafft man mit dem vielleicht luxuriösesten Reisewagen der Le Mans-Geschichte Platz 6 in der Gesamtwertung und folgt mit der anschließenden Urlaubsreise quer durch Frankreich der „Gran Turismo“-Idee in bester Manier. 1950 wiederholt sich die Geschichte, nunmehr mit Hugh Hunter als Zweitpilot und Platz 14 in der Gesamtwertung, und 1951, mit fast 200 Tsd. Kilometern auf der Uhr, schafft Hay zusammen mit Tom Clarke zum dritten Mal die Zielankunft in Le Mans.
Die ungewöhnliche Geschichte dieses Bentley und die wunderschöne Teardrop-Form der Karosserie haben schon in den 1970er Jahren 1:43-Repliken entstehen lassen, angefangen mit Idea3, einem Metallbausatz in Kleinserie, und mit Brooklyn Models (Kleinserien-Fertigmodelle). Später folgte MPH mit dem bis dato besten Kleinserien-Fertigmodell des Bentley, und aktuell schließlich Spark und Minichamps mit neuen 1:43-Resincast-Modellen. Minichamps nahm nach dem zunächst aufgelegten Embiricos-Bentley im Maßstab 1:18 (als Straßenversion 1938 und als Le Mans-Version 1949) auch die Straßenversion in 1:43 ins Programm, Spark kam im Laufe des Jahres 2015 mit den Le Mans-Versionen 1949 und 1950 heraus. Ob Minichamps die ursprünglich angekündigten Le Mans-Versionen 1949 und 1950 in 1:43 auch noch ins Programm nimmt, ist allerdings offen (Stand 2015).
Die beiden 1:43-Modelle des Bentley Embiricos in 1:43, die Straßenversion von Minichamps und die Le Mans-Version 1949 von Spark, wurden auf der Webseite „auto&modell“ bereits begutachtet (Oktober 2013 bzw. April 2015). Die beiden Spark-Modelle des Embiricos von Le Mans 1949 und 1950 sind in der Tat sehr schön geworden, insbesondere die Speichenräder, die dieses Mal bei Spark wohl nicht zu breit geraten sind. Haare finden pedantische Modellbauer natürlich immer noch in der Suppe, etwa beim 1950er Modell das fehlende Querrohr unter dem Frontgrill, an dem der Zusatzscheinwerfer befestigt war, oder bei den Grills vor den Hinterrädern, die 1950 etwas anders aussahen als 1949 (beim 1949er Modell sind sie korrekt, 1950 fehlten wohl die beiden Querstreben). Die Unterschiede der Positionen des Zusatzscheinwerfers (1949 war er tiefer angebracht als 1950) hat Spark dagegen korrekt recherchiert.
Ein Fragezeichen steht hinter der von Spark beim 1949er Le Mans-Modell gewählten Variante der abgedeckten Hinterräder (Spats) – ein Unterschied zum 1950er Modell. Entscheidend sind als Fotoquellen SW-Fotos vom Rennen, nicht etwa vom damaligen „Urlaubsfahrzeug“ oder gar vom aktuellen, restaurierten Fahrzeug. Ich kenne leider nur ein einziges Foto, das den 1949er Embiricos auf dem Rennkurs in Le Mans mit Spats zeigt, auf allen anderen Rennfotos fehlen diese, auch auf dem Foto zur 1949er Startaufstellung im Le Mans-Doppelalbum (1923-1992) von Moity und Teissedre. War der Embiricos in Le Mans womöglich nur im Training mit Spats unterwegs? Vielleicht gibt es ja weitere Beweisfotos, die eindeutig vom Rennen stammen.
Zum Schluss noch zwei Bemerkungen. (1) Viele Quellen verwenden bei dem hier beschriebenen Bentley den Namenszusatz „Embiricos“, was m. E. etwas unpassend ist, war der Grieche doch nur ein Jahr Besitzer des Fahrzeugs. Passender wäre die Bezeichnung „4¼ Litre Paulin“ oder „4¼ Litre Pourtout“, um das besondere Design dieses Bentley Einzelstücks zu würdigen. Der Zusatz „Corniche“ ist im Übrigen nicht korrekt, ein Bentley mit diesem Namen war erst für 1939 geplant, er erreichte aber angesichts des Kriegsausbruchs nie die Serienreife.
Und (2): In Le Mans 1950 startete ein weiterer Vorkriegs-Bentley, ein auf einem Bentley von 1934 basierendes Fahrzeug. Edward Ramsden („Eddie“) Hall fuhr diesen Wagen u.a. 1934, 1935 und 1936 bei der Ards Tourist Trophy (T.T.), kam dort jeweils auf den 2. Platz. Seine Meldung für das Rennen in Le Mans 1936 war vergeblich, da das Rennen in dem Jahr abgesagt wurde. 1950 kam er dann doch mit dem Bentley 4¼ Litre „T.T.“ nach Le Mans und holte den 8. Platz in der Gesamtwertung. Das Besondere daran: Hall fuhr das gesamte Rennen ohne Ablösung, eine in der Le Mans-Historie einmalige Leistung. Von diesem Bentley wurde bislang (2015) nur ein 1:43-Bausatz von SLM43 produziert, der heute nur noch schwer aufzutreiben ist.
Die Übersicht zu den 1:43-Modellen der Bentley-Le Mans Fahrzeuge 1923-1951 (Stand 2015) zeigt, dass MCM als Kleinserien-Bausatzhersteller alle Bentley der Jahre 1923 bis 1930 (mit Ausnahme des 4½ Litre Blower) in seinem Programm hatte. Generell sind dies sicher die besten Bentley-Modelle, die Kits sind aber nur noch sehr schwer aufzutreiben und verlangen außerdem einen kundigen Modellbauer. Sehr schön sind auch die SMTS-Modelle des Speed Six und des Blower, die als Kits und als Kleinserien-Fertigmodelle produziert wurden, auch diese sind mittlerweile nicht mehr so leicht zu bekommen. Starter hat alle in Le Mans siegreichen Bentley als Fertigmodelle angeboten, allerdings ab 1927 in einem eigentümlichen, sehr hellen Grünton, der vermutlich so nicht korrekt war. Die Le Mans-Sieger werden in akzeptabler Qualität auch von IXO angeboten, der Blower außerdem von Minichamps. Man kann davon ausgehen, dass auch Spark in Zukunft die wichtigsten Le Mans-Bentleys produzieren wird. Dann ist zu erwarten, dass diese zumindest besser als die IXO-Modelle ausfallen.
Quellen: Siehe Rubrik “Über diese Seite” → “Anmerkungen zu Minerva Endurance”, hier insbesondere die dort genannten verschiedenen Le Mans-Bücher, die die Vorkriegsepoche mit abdecken. Außerdem wurden natürlich diverse Internet-Webseiten ausgewertet.
Spezielle Quellen für diesen Bericht: Zur „Blue Train Special“-Geschichte gab es einen sehr ausführlichen und gut recherchierten Bericht in der Zeitschrift „Oldtimer Markt“ Nr. 9/2014. Fotos der beiden Bentley aus dem Le Mans-Jahr 1950 sind im folgenden Buch dokumentiert: Robert C. Auten, Le Mans 1950 Photo Archive – The Briggs Cunningham Campaign, Iconografix Photo Archiv Series 1994.